Marius Meng - ein Leben - zwei Welten

Aus der persönlichen Nahperspektive eines "Insiders", der viele Jahre in der Familie Meng gelebt hat und dabei eine einmalige Atmosphäre erleben durfte.

Ich möchte kurz einige Bilder aus dem Leben und Umfeld meines Onkels Marius Meng aufleuchten lassen, die mir besonders jetzt wieder in Erinnerung kommen, da wir das fünfzig jährige Jubiläum der Orchestergesellschaft Zürich feiern, die er gegründet und während über 30 Jahren mit Enthusiasmus geleitet hat.

Herkunft

Die grosselterlichen Wurzeln von Marius lagen im Elsass. Im kleinen Bauerndorf Bergholz-Zell zwischen Mühlhausen und Colmar besass und führte Papa Hanauer die damals weit über die Region hinaus bekannte Naturheilanstalt Hanauer. Er war ein Patriarch alter Schule, zuerst Dorflehrer, dann engagierter und begabter Naturheilarzt. Im Ersten Weltkrieg pflegte er viele Verwundete mit grossem Erfolg und praktizierte später vor allem die Kneipp-Methode.

Im Kurhaus herrschte strenge Zucht und Ordnung: die Kinder durften an der "table d’hôte", an der auch die Kurgäste des Hauses dinierten, nicht sprechen. Sie verständigten sich daher mit den Füssen unter dem Tisch. Niemand hätte gewagt, mit dem Essen zu beginnen, bevor Papa Hanauer das Zeichen dazu gab. Auch Klaviermusik, Pferde und Kutschen gehörten ebenso zur "ambiance" wie später die ersten Autos - ich habe einige vergilbte Fotos aus dieser Zeit gefunden. Marius und Mariette, seine Schwester (und meine Mutter), haben als Kinder ihre Ferien oft in dieser Umgebung verbracht. Meine Mutter erinnerte sich immer wieder mit Schmunzeln, dass die polnischen Bediensteten des Hauses mit einem Bückling meldeten: "en voiture Monsieur, s.v.p!", bevor sie Papa Hanauer den Stock und den "chapeau claque" überreichten. Der Patron war so geachtet, dass sogar Eisenbahnzüge auf ihn warteten, wenn er verspätet auf dem Bahnhof eintraf - er hat allerdings die Dampflokomotivführer jeweils persönlich mit Schokolade belohnt.

Die Behandlung im Kurhaus war ganz auf Ganzheitlichkeit ausgelegt: neben kalten Wassergüssen erhielten Kinder und Gäste eine ausgezeichnete "haute cuisine". Als Balsam für die Seele wirkten die kammermusikalischen Hauskonzerte und für das höhere Seelenheil sorgte die nachbarliche katholische Wallfahrtsstation "Der Ölberg" (d’r Ehlebärg) mit Kapelle und Gottesdienst. In solcher Umgebung war es nur natürlich, dass die Tochter Clothilde Hanauer, die Mutter von Marius und Mariette, im Mädchenpensionat einer Klosterschule in Strassburg ausgebildet wurde. Beinahe wäre Sie als Nonne im Kloster geblieben; nicht auszudenken, was dann aus uns allen geworden wäre. Auch in der Klosterschule spielten neben der Religion auch Kunst und vorab Musik eine eminente Rolle; daneben aber auch die weltlichere Beschäftigung mit der französischen oder - pardon - elsässischen Küche. Marius und Mariette haben die Kochkunst ihrer Mutter immer wieder in den höchsten Tönen gepriesen. Im Kloster sang sie oft bei Messefeiern solo auf der Empore und hatte im eigentlich strengen und unbestechlichen musikalischen Urteil meiner Mutter eine Stimme wie "die Callas"! Später begleitete sie sich selber auf dem Klavier.

Mamama, wie wir sie in der Familie nannten, lernte Charles Albert Meng kennen, Er hatte in Colmar Pharmazie studiert. Wir nannten ihn später Papapa. Sie heirateten und emigrierten wegen der politischen Unsicherheit im Elsass nach Zürich um, sozusagen von Null auf, eine neue Existenz zu gründen. Quasi als Mitgift ihrer Ehe kam Clothilde Ziegler - also die zweite Clothilde - eine Tochter aus der Nachbarschaft des Kurhauses mit nach Zürich.

Mamama wollte nicht im Spital, sonder zuhause gebären: so 1911 meinen Onkel Marius und 1913 meine Mutter Mariette. Mamama muss bei den Geburten sehr laut geschrien haben, denn Clothilde Ziegler, damals eine hübsche, begehrenswerte Tochter, schwor hoch und heilig, nie im Leben zu heiraten, nachdem sie alles hautnah miterlebt hatte. So blieb Clothilde der gute Geist der Familie von Mamama und Papapa, Marius und Mariette und schliesslich auch von mir während 56 Jahren bis an ihr Lebensende. Ihr derb-gesunder Bauernwitz wurde ihr wohl in die Wiege gelegt, die Kochkunst hatte ihr Mamama beigebracht, ihre unversieglichen Zitate und Gedichte zu jeder Gelegenheit vor Gästen stammten aus dem Schatz ihrer Primarschule in Bergholz-Zell. Ihr fröhlicher Küchengesang "in allen Sprachen" war durch die musikalische Umgebung inspiriert und durch Caruso’s Stimme aus den Rillen der Schellackplatten des Grammophons. Auch sie hat viel dazu beigetragen, dass sich alle Freunde und Künstler in unserem Hause sehr wohl fühlten. Clothilde hat in unserem Familiengrab ihre letze Ruhe gefunden. Wir halten auch Ihr Andenken in hohen Ehren.

Papapa war ein sprachbegabter Apotheker und herzensguter - Choleriker. Seine Schwäche war Peter Iljitsch Tschaikowsky. Meinen zweiten Vornahmen Peter verdanke ich ihm. Der bissige Scotch-Terrier der Familie wurde Iljitsch getauft. Wenn Mariette oder Marius etwas bei ihrem Vater erreichen wollten, gab es einem unfehlbaren Zaubertrick. sie legten eine Schallplatte von Tschaikowsky auf den Plattenteller und Papapa schmolz willenlos dahin. Er arbeitete viele Jahre in einer Zürcher Apotheke bis zu seinem allzufrühen Tod.

Mamama war eine warmherzige, heitere, stolze aber gottesfürchtige Person mit unerschütterlichem Glauben an die Kirche und ihre Heiligen. Vor Menschen hat sie sich nie gefürchtet. Ihrem Einfluss verdanke ich meinen dritten Vornamen Antonius. Der heilige Antonius hat mir schon beim Suchen geholfen, wenn ich etwas verlegt hatte - wenn er wollte. Mamama liebte den Umgang mit geistlichen Würdenträgern. Durch unsere Bemerkungen liess sie sich nicht irritieren, und konnte immer wieder herzlich über sich selbst lachen. Auf ihre elsässische Herkunft war sie stolz, sprach Französisch, Elsässisch und Deutsch und in all den Jahren kein Wort Schweizerdeutsch.

 

Bildungsgang - Berufe

Um den Kindern Marius und Mariette eine erstklassige Ausbildung bezahlen zu können, wurden im bescheidenen Haushalt sogenannte "paying guests" in Pension aufgenommen. Sie waren eine unerschöpfliche Quelle von sehr skurrilen Geschichten. Auf die Fremden in der Wohnung hätten die Kinder allerdings gerne verzichtet.

Nach der Primarschule wurden zunächst beide Kinder in die Handelsschule geschickt. Mariette machte die Handelsmatura. Marius war zutiefst unglücklich, da Handelsfächer nicht seinem Naturell entsprachen. Schliesslich konnte er in die höheren Klassen des Gymnasiums der Kantonsschule wechseln und bestand die Matura in relativ kurzer Zeit. Dann stürzte er sich mit Begeisterung auf das Studium der Medizin. Er war ein Schnell-Lerner mit "blitzartiger" Auffassungsgabe und ausgezeichnetem Gedächtnis. Oft pflegte er einen Stoff gleichzeitig zu lernen und ihn anderen - zwar mit Ungeduld aber suggestivem Geschick - beizubringen. Seine "professorale" Leidenschaft ging so weit, dass er manchmal seinem "Schüler-Opfer" zwanzig Rappen schenkte, wenn er ihm etwas beibringen durfte. Solche Lehrer hätte man heute gerne. So gelang es später meiner Mutter, die für die Aufnahmeprüfung an der an der Universität damals unerlässliche Kenntnis der lateinischen Sprache mit Hilfe des "Privatlehrers" Marius und dank einer eigenen Parforceleistung innerhalb eines halben Jahres zu erarbeiten. Als "Recht- und Ordnungsliebende" studierte sie anschliessend Jurisprudenz und zusätzlich Kunstgeschichte und lernte an der Universität ihren künftigen Mann Silvio kennen, der als Kollege von Marius ebenfalls Medizin studierte.

Marius hätte nach seinem Studium das Kurhaus im Elsass als "richtiger" Arzt übernehmen können, doch es sollte anders kommen: Zürich war seine definitive Heimat . Während der Aktivdienstzeit leistete er nun als Schweizer Offizier und Arzt seinen Militärdiest. Schliesslich spezialisierte er sich in Chirurgie und Gynäkologie. Nach einigen Jahren als Assistenzarzt am Kantonsspital Zürich und als Oberarzt an der Zürcher Frauenklinik ergab sich sich 1944 die Gelegenheit die Praxis des eben verstorbenen bekannten Frauenarztes Dr. Deucher am Pfauen in Zürich zu übernehmen.

Etwa zur gleichen Zeit machte sich mein Vater in doppeltem Sinne selbständig, er eröffnete eine chirurgische Praxis und verliess seine Familie. Dies war ein Anlass, dass meine Mutter sich zur Aufgabe machte, ihrem Bruder tatkräftig beizustehen. Dabei konnte sie ihre Stärken etwa in den Bereichen Organisation, Geschäftsführung einsetzen. Marius interssierte sich nie für administrative Belange oder langfristige Planung. Meine Mutter hatte miterlebt, wie das ehemals blühende "Unternehmen" Kurhaus im Elsass wegen mangelnder Führung und übermässiger "Nutzniessung" durch Verwandte schliesslich Konkurs machen musste. Das war für sie zeitlebens ein abschreckendes Beispiel, dass sich nie wiederholen durfte.

Auch Mamama und Clothilde halfen anfänglich beim Aufbau der Praxis mit: in der ersten Woche als sitzende "Statisten" in den beiden Wartezimmern, damit die ersten Patienten nicht das Gefühl hätten, sie seien die einzigen. Glücklicherweise dauerte diese Anlaufphase nur kurze Zeit und die Gynäkologische Praxis entwickelte sich dank der ärztlichen Begabung von Marius aber auch dank der einmaligen symbiotischen Zusammenarbeit der beiden Geschwister zu einem blühenden "Unternehmen" das, in kühlen Zahlen ausgedrückt, schliesslich 35000 kranke und naturgemäss auch gesunde Frauen betreute.

Marius war ein "neugieriger" Mensch. Beruflich hielt er sich durch tägliche Lektüre der Fachliteratur auf dem Laufenden. Er arbeitete auch mit pharmazeutischen Firmen zusammen an Untersuchungen etwa über die Wirkung und Verträglichkeit der eben neu entwickelten contraceptiven Medikamente. Fachliches Wissen, Erfahrung und Freude am Dozieren machten es ihm zum Kinderspiel, ohne längere Vorbereitungen an der Volkshochschule der Universität Zürich regelmässig zum Thema Frauenheilkunde und Präventivmedizin vor zahlreichem Publikum zu sprechen. Er wusste die Zuhörerinnen durch seine unkomplizierte, spontane Art und durch pointierte Darstellung des Sachverhalts in Bann zu ziehen und konnte sich nicht nie verwehren, humorvolle Bemerkungen einzustreuen.

Es scheint, dass die während des Studiums und seiner gesamten Praxistätigkeit angesammelte Erfahrung in seinem assoziativen Gedächtnis auf Abruf verfügbar war: so erinnerte er sich bei Patientinnen mit selten auftretenden Krankheitssymptomen an analoge Fälle und entwickelte bei seinen Diagnosen und Operationen eine beinahe "traumwandlerische" Sicherheit. Viele seiner Erfahrungen hat er auch in Artikeln der medizinischen Fachliteratur veröffentlicht. In seiner langen Berufskarriere musste er kein einziges Mal wegen eines ärztlichen " Kunstfehlers" die Berufsrisikoversicherung in Anspruch nehmen. Unnötige Operationen hat er immer vermieden. Ich erinnere mich an den Fall einer Frau, die er vor einigen Jahren operiert hatte. Zufällig hörte er bei Krankenbesuchen im Spital ihren Namen. Sie war inzwischen zu einem anderen Arzt gegangen, lag schon auf dem Operationstisch und wurde zur Amputation ihrer Brüste wegen eines Karzinoms vorbereitet. Marius trat in den Saal, stellte sich vor das Operationsteam und sagte, er verlasse den Raum nicht, bevor nicht eine Probe-Exzision und eine sofortige Gewebeuntersuchung im nahen Pathologischen Labor des Universitätsspitals gemacht wurde. Der Befund nach einer knappen Stunde war tatsächlich wie von ihm erwartet negativ und die Frau konnte ohne Operation entlassen werde. Von seinem kompromisslosen beruflichen Engagement zeugen auch die vielen Dankesbriefe, die Marius von seinen Patientinnen erhalten hat.

Marius pendelte nun zwischen Sprechstunde, Operationssaal, Universität und, wie wir noch sehen werden, Musik. Ich kann mich nicht erinnern, dass er nach seinem Studium jemals Ferien gemacht hätte. Clothilde besorgte wiederum den Haushalt, Mamama wohnte im gleichen Haus, bediente oft das Telephon, machte Krankenbesuche und betete für die Kranken. Meine Mutter besorgte "alles andere" - während schliesslich 36 Jahren - als Sekretärin, Buchhalterin, Rechtsberaterin, Personalchefin, Bauherrin, Impresario... . Sie sorgte für die Alterssicherung der Familie, die allerdings mit den Jahren immer kleiner wurde.

Nun zum Zauberwort Musik

Sie wissen oder ahnen es: Marius und Mariette führten ein "Doppelleben". Marius öffentlich, Mariette für Aussenstehende weniger sichtbar hinter den Kulissen: beide Geschwister hatten den unheilbaren Virus der Musikalität im Blut. Sie besuchten als Kinder das Konservatorium und brachten es - teilweise auch autodidaktisch - zu grosser Meisterschaft im Klavierspiel, besonders auch im Spiel von neuen Stücken ab Notenblatt.

Mit 15 Jahren gab der junge Marius sein erstes Orgelkonzert in der Liebfrauenkirche in Zürich. Mariette erinnerte sich auch gerne an die damalige Stummfilmzeit, als Marius für ein Taschengeld in einigen Kinos von Zürich "live" vom Blatt die obligate Klavierbegleitung besorgte. War Marius unabkömmlich, so sprang Mariette natürlich für ihn ein und spielte, etwa unter der Leinwand des Kinos Piccadilly aus dem Melodien-Rezeptbuch je nach Szene Liebesromanzen oder Trauermärsche. Die vielen Notenunterlagen, die ich auf dem Estrich gefunden habe, geben ein nostalgisches Bild dieser Zeit. Meine Mutter erinnerte sich auch an ein Kaffee-Restaurant, das zur Belebung des Geschäfts klassische Salonmusik mit Ratespielen offerierte. Die Gäste konnten einen schönen Preis gewinnen, wenn sie den Komponisten und das Stück errieten. Das Team Marius und Mariette wurde damals berüchtigt, da beide wiederholt alles errieten. Es ging soweit, dass der Veranstalter die Aktion abbrechen musste, weil immer dieselben gewannen.

Mit 17 Jahren hat Marius mit Dirigieren begonnen: im katholischen Jünglingsverein sammelte er einen Chor und trat mit ihm im Gesellenhaus Wolfbach auf. Auf Reisen musste Mariette auf Geheiss des in diesen Dingen eher "schüchternen" Marius immer die Orgelschlüssel der jeweils besuchten Kirchen erbetteln.

Marius lernte "spielend" weitere Instrumente bis zur Meisterschaft: Posaune, Klarinette, Saxophon, Fagott. Wenn Herr Burger, der legendäre Fagottist des Tonhalleorchesters, unabkömmlich war, spielte Marius an seinem Platz. Als junger Student gründete er an der Universität das Unterhaltungs- und Jazz-Quintet "Swiss Academians" mit dem er in vielen Städten und Kurorten gastierte. So konnte er mit den Einnahmen als "Werkstudent" teilweise die Kosten seines Studiums finanzieren. Gleichzeitig lernte er das etwas grössere Instrument "Sinfonieorchester" spielen: während seines Studiums las er von einem professionellen Dirigentenkurs beim bekannten Felix Weingartner in Basel. Er bewarb sich, bestand die Aufnahmeprüfung und fuhr nun jede Woche nach Basel. Dirigentendiplom und medizinisches Staatsexamen schloss er 1933 praktisch gleichzeitig ab: musikalisch mit der Aufführung der Euryanthe Ouverture von Carl Maria von Weber, medizinisch mit der Dissertation "Hyperemesis und Pyelitis Gravidarum". Weingartner versuchte Marius für eine rein musikalische Laufbahn zu gewinnen. Für Marius aber blieben die Prioritäten immer klar: die erste Liebe galt der Medizin, die zweite, gleichzeitige der Musik. Marius blieb dafür zeitlebens Junggeselle.

Nach einer kurzen Dirigententätigkeit im kleinen 10-Mann Dilettanten-Orchester von Küsnacht wurde schliesslich eine grosse Amateur-Sinfonieorchester-Formation gegründet, die Orchestergesellschaft Zürich. Mit der Zeit probten nun bis zu achtzig musikbesessene Idealisten - ohne Salär und staatliche Subventionen - jeden Freitagabend aus purer Freude an der Musik. Marius konzertierte mit seinem Orchester regelmässig in der Zürcher Tonhalle und vielen anderen Orten.

Dank der Assistenz von Mariette konnte sich Marius voll seinem grossen Hobby Musik widmen. Im Musikzimmer seiner Wohnung und Praxis am Pfauen standen zwei Steiway-Flügel. Wenn sich die Patientinnen im Untersuchungszimmer umkleideten, nützte er die Wartezeit für ein kleines Klavierintermezzo. Am Abend spielte man oft vierhändig auf zwei Klavieren: meist auf den tiefen Tasten links Mariette, auf den hohen Tasten rechts Marius, allein oder vor Gästen. So wurden auch die Klavierauszüge vieler Orchesterwerke und Opern durchgespielt.

Die künstlerische Seite des Lebens von Mariette war anfänglich eher auf Kammermusik ausgerichtet. Ich erinnere mich an die Hauskonzerte an der Moussonstrasse, wo sie jeweils den Klavierpart übernahm. Dank Ihrer Gabe, mit Menschen umzugehen, baute sie mit ihrer herzlichen Art ein grosses Netz von gesellschaftlichen, persönlichen und künstlerischen Kontakten. Das führte dazu, dass viele junge, aber auch etablierte Künstler im Hause verkehrten oder zeitweise sogar wohnten. Andererseits setzte sie alles daran, dass Marius auch bekannte Berufsorchester in der Schweiz und im Ausland dirigieren konnte. Man hätte sie mit Recht als eigentlichen Impresario bezeichnen können. Sie entdeckte oft mit dem ihr eigenen Spürsinn junge, talentierte Solisten und lud sie zu einem ersten Konzertauftritt unter der Leitung von Marius ein, ohne dass eine Konzertagentur das Erfolgsrisiko hätte tragen müssen. Sie war stolz, wenn sich nach einiger Zeit bestätigte, dass ein Künstler den "Durchbruch" geschafft hatte.

Obwohl sich Marius Meng in späreren Jahren hauptsächlich auf die Arbeit mit seiner Orchestergelsellschaft konzentrierte, ist er recht oft mit schweizerischen und ausländischen Berufsorchestern aufgetreten. So etwa mit dem Winterthurer Stadtorchester, häufig mit dem "Verstärkten" Tonhalleorchester Zürich, mit dem er auch in anderen Städten auf Tournee gieng, mit dem Sinfonieorchester Innsbruck, mit dem Utrechtsch Stedelijk Orchest, dem Concertgebow Orchester Amsterdam und mit den Stuttgarter Philharmonikern. Mit diesen Orchestern trat Marius mit bekannten Solisten auf wie der Sängerin Maria Stader, den Violinisten Wolfgang Schneiderhan, Nathan Milstein, Arthur Grumiaux, Ida Haendel, den Pianisten Alfred Cortot, Friedrich Gulda, Alexis Weissenberg, Shura Cherkassky, oder dem scheinbar extravaganten Arthuro Michelangeli Benedetti, dem das Publikum immer wieder verziehen hat, dass er oft seine Konzerte in allerletzter Minute absagt. Das hat er allerdings bei "uns" nicht getan und sich auch unter der "mütterlichen" Obhut unserer lieben Clothilde äusserst wohl gefühlt.

Wer annimmt, dass sich Marius nur in den Sphären der Musik oder Medizin wohlfühlte, der irrt sehr: eine seiner "bodenständigen" Leidenschaften war als Student das Velofahren. Mit einem Kollegen ist er kurze Zeit nach Kriegsende mit dem Tandem über der Gotthard nach Genua gefahren. Als Assistenzarzt kam er mit dem Velo zur Orchesterprobe und raste oft auch per Velo zur einer Geburt ins Spital. Später haben ihn auch Velorennen auf der Rennbahn Oerlikon fasziniert. Er kannte alle Grössen des Radsports. Oft durfte ich ihn an die damals aktuellen Steherrennen begleiten. Noch mehr begeisterte er sich an Fussball und Eishokey. Ich sehe ihn noch jetzt als "Fan" an einem Match auf der Dolder Eisbahn mit tropfender Nase, rotem Kopf und heiserer Stimme. Ein weiteres Faszinosum teilte er mit dem Komponisten Arthur Honegger: die Begeisterung für Eisenbahnen und Lokomotiven. So erzählte er etwa begeistert vom Erlebnis der Fahrt im Führerstand einer Lokomotive durch den Gotthard.

Mit seiner Orchestergesellschaft Zürich konzertierte Marius mit bedeutenden arrivierten oder unbekannten jungen, begabten Künstlern ein bis zweimal pro Jahr im Grossen Saal der Tonhalle Zürich und zusätzlich an vielen Orten der Schweiz, so auch in der Arena von Avenches oder regelmässig im Rittersaal auf Schloss Lenzburg aber auch in unzähligen Gemeindehäusern, Kirchen, Theatern, Festhütten und Turnhallen von Dörfern, die ausserhalb des grosstädtischen Konzertbetriebes lagen. Unvergesslich sind auch das Verdi Requiem und die Oratorien, die in Zusammenspiel mit Chören wie dem Zürcher Bach Chor oder dem Heinrich Schütz Chor in der Tonhalle, dem Grossmünster oder in anderen Kirchen aufgeführt wurden. Unvergessen sind auch die Opernkonzerte mit Sängern aus dem Opernhaus Zürich oder eines Opernchores aus Parma. Tradition hatten auch gemeinsame Auftritte mit der Stadtmusik Zürich an Jungbürgerfeiern und Wohltätigkeitskonzerte, etwa für das Hilfswerk des Elsässers, Weltbürgers und Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer oder im Rahmen des Schweizerischen Roten Kreuzes anlässlich des Ungarnaufstandes 1956. Zu Richard Wagners 150. Geburtstag kam es 1963 zu einer Fernsehsendung in Zusammenarbeit mit Prof. Kurt Pahlen. Trotz der beschränkten Abkömmlichkeit von Amateurmusikern liessen sich gelegentlich auch Auslandauftritte organisieren, so etwa in Deutschland oder auf Mallorca.

Zu den vielen Künstlern, die mit Marius - zum Teil erstmals in der Schweiz - auftraten, gehörten etwa Daniel Barenboim, der in kurzen Hosen elfjährig in Zürich als Pianist sein Debut gab und mit seinen Eltern einige Zeit in unserer Familie Aufnahme fand; etwa Maurizio Pollini, der als sechzehnjähriger erstmals in Zürich spielte und damals als Schüler wie ich noch die Matura vorbereitete. Ich denke auch an den phänomenalen Dan Grigore, von dem man am Vorabend des Konzerts noch nicht wusste, ob er die Bewilligung für die Ausreise aus dem kommunistischen Rumänien erhalten würde. Ich denke an Paul Badura Skoda, an Clara Haskil, Andor Foldes, Ricardo Odnoposoff, Hans-Heinz Schneeberger, Peter Lucas Graf, Ingrid Haebler, Nikita Magaloff, Alexander Brailowsky, Maria Stader, Aldo Ciccolini. Ich denke an die greise Pianistin Elly Ney, die ihr letztes und dann ihr allerletztes Konzert gab. Ich denke an den immer noch vitalen, jetzt 84 jährigen Pianisten Shura Cherkassky. Er ist unzählige Male mit Marius aufgetreten und hält noch heute mit mir den Kontakt aufrecht als einer der treuesten Künstlerfreunde.

In der Wohnung neben der Praxis an der Rämistrasse 38 pulsierte auch "nach Arbeitsschluss" ein ungeheuer vielfältiges Leben. In diesem verkehrsumbrandeten Geschäftshaus konnte bis spät in die Nacht musiziert werde, ohne weniger musikbesessene Nachbarn zu stören. Viele junge Künstler kamen um vorzuspielen, in der Hoffnung auf einen ersten Konzertauftritt. Andere einfach zu kammermusikalischen Abenden oder angeregten Diskussionen im kleinen Kreis, zu Vorbesprechungen von Konzerten, zum Ausruhen nach anstrengenden Auftritten oder einfach zum Üben, wie etwa Shura Cherkassky, der mit seiner minutiösen "Zeitlupenmethode" alle Vortragsdetails ausfeilte. Ich erinnere mich an Dirigentenpersönlichkeiten wie den slavisch-gemütvollen Raffaël Kubelik, der nach seiner damaligen Flucht aus der Tschechoslowakei mit Frau und Sohn bei uns weilte, den asketisch wirkenden aber spitz-humorigen langjährigen Dirigenten des Tonhalleorchesters Hans Rosbaud, der auch die komplexesten zeitgenössischen Kompositionen bravourös über die Runden brachte; den eher "intellektuellen" Komponisten Vladimir Vogel, den rührigen Musiklehrer und Komponisten Armin Schibler - eines seiner Weke wurde von Marius uraufgeführt , oder den temperamentvollen Tondichter Heinrich Sutermeister. Im reichen Fundus der musikalischen Reminiszenten fand ich auch Photos von Marius im Gespräch mit seinem hochverehrten "Vorbild" Wilhelm Furtwängler. Ich erinnere mich auch, wie wir alle zusammen nach Baden reisten um den dort zur Kur weilenden Richard Strauss zu besuchten, den mein Onkel als "lezten grossen Symphoniker" ausserordentlich schätzte. Das Bild des älteren sympatisch-distinguierten Herrn aber "tongewaltigen" Meisters im Korbstuhl ist mir noch in Erinnerung. Meinem Onkel hatte er ein paar Notenzeilen gewidmet. Man hat bei uns gemunkelt, dass ihn seine Frau Pauline oft im Zimmer einschloss, damit er ja fleissig und ungestört komponieren "konnte" und nicht auf andere Gedanken kam.

Zum Anlass des zwanzigjährigen Jubiläums der Orchestergesellschaft Zürich komponierte Alfred Baum die spritzig-gefällige "Serenade für 13 Bläser und Contrabass", welche dann ihre Uraufführung erlebte. Zum dreissigjährigen Jubiläum schuf Albert Moeschinger das originelle "Entrée und Scherzo ingénue" (gewidmet Dr. Marius Meng und seiner Orchestergesellschaft). Zur Verleihung des "Kunstpreises der Stadt Zürich" an den von Marius und Mariette geschätzten Komponisten und Intendanten Rolf Libermann hielt Marius die Laudatio im Opernhaus und bestimmte wärend zwölf Jahren das Musikleben Zürichs auch im Vorstand der Musikkommission mit.

Es war für mich zunächst nicht leicht, in einer so "elitären" kunstgeschwängerten Atmosphäre die mir passende Rolle zu finden. Erste Versuche, mich zum aktiven Musizieren zu bekehren, scheiterten, da ich mich vor dem Besuch der Geigenlehrerin in meinem Zimmer einschloss. Der Versuch mit Klavierspiel am Konservatorium war etwas erfolgreicher. Der didaktisch ambitionierte Lehrer hatte seine eigene "Malbüchlein"-Methode um kleinen Kindern Musik beizubringen. Die Uebung endete, nachdem ich einige Zeit die süssen Melodien geübt hatte und meine Mutter an meiner Stelle die Noten, Männchen und Blümchen mit Farbstiften bemalte. So wurde der Berufsstolz des Lehrers geschont, meine Freude hielt sich aber in Grenzen. Das soll nun keine Ausrede sein, warum ich schliesslich "nur" Physiker und nicht ein grosser Musiker geworden bin. Vielleicht war der Grund die allzu frühreife Erkenntnis, dass ich im Gegensatz zu meiner Umgebung noch meilenweit vom Olymp der Kunst entfernt war. Erst vor kurzem hat auch mich der aktiv-musikalische Virus überwältigt und ich habe mit dem begonnen, was mein Onkel schon mit fünfzehn Jahren beherrschte: dem Orgelspiel.

Mein erster regelmässiger Beitrag zum Gelingen der Konzerte der Orchestergesellschaft Zürich beschränkte sich auf den Transport der zwei bis drei gigantischen Kontrabässe und der sperrigen Pauken vom Konservatorium zur Tonhalle und nach den Konzerten wieder zurück. Dies funktionierte allerdings nur bei freundlichem Wetter problemlos: im eleganten weissen Cabriolet meines Onkels wurden die Instrumente zu Passagieren auf den Sitzen, die Pauken verschwanden soweit möglich im tiefen Kofferraum. Ich habe jeweils auf den Fahrten mit Schmunzeln die grossen Augen der Passanten bemerkt. Mein zweiter Beitrag war die Rolle als Statist beim Kontrabass für die Jubiläumsphotografie des Orchesters in der Tonhalle da der Original-Musiker auf sich warten liess.

Schliesslich fand ich einen Weg, meine wohl angeborene Liebe zur Musik und meine Faszination durch Physik und Technik nützlich zu vereinen: ich habe die meisten Konzerte meines Onkels mit einer Tonbandausrüstung und Schallwandlern dokumentarisch aufgenommen, die ich mit den Jahren - teilweise im Eigenbau - perfektioniert hatte. So gelangen mir wohl einige der ersten "Kunstkopf"-Stereophonie Aufnahmen in der Tonhalle. Dazu bin ich jeweis an Proben und Aufführungen in der staubigen "Zwischendecke" des Saales über den gemalten und vergoldeten Engeln der Stukkatur herumgekrochen und habe die Mikrofone durch die Löcher der Decke in die richtige Aufnahmeposition herabschweben lassen. Mein guter, inzwischen verstorbener Freund Franz Tomamichel hat mir dabei unermüdlich assistiert. So sind in all den Jahren über zweihundert Aufnahmen entstanden, die ich wie einen Schatz aus alten Zeiten hüte, von dem man ab und zu einige Perlen am Tagslicht schimmern lässt, der aber durch Töne selber sprechen kann und einen direkten Zugang in unser Herz kennt. So bleiben diese "goldenen" Zeiten auch nach dem Tod von Mariette und Marius immer lebendig und ich höre ihn noch voll Entzücken an den Proben rufen:

"... Chinder, isch das e herrlichi Musig!!!".

Gregor Antes

Marius Meng with his Orchestergesellschaft Zürich, the combined Zürcher Bach Chor and Heinrich Schütz Chor performing the Verdi Requiem at the prestigious Tonhalle Zürich


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